Folge 1: 15. Februar 1933
[Volkshaus]
In den frühen Morgenstunden des 15. Februar 1933, gegen 2:30 Uhr, fallen an dem „Volkshaus“ in der Siegburger Kaiserstrasse Schüsse. Von der gegenüberliegenden Tankstelle feuern SA und SS; aus dem Haus, das dem Metallarbeiterverband gehört und in dem auch Räume des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und der SPD sind, schiessen Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Bei diesem Schusswechsel traf eine Kugel den SS-Scharführer und Anstreichergehilfen Franz Müller tödlich. Unmittelbar danach werden die 16 Männer, die sich im Volkshaus befinden, von der Polizei festgenommen; im Volkshaus wurden 1 Karabiner, 3 Pistolen sowie Munition sichergestellt.
Franz Müller wurde „von Angehörigen des Reichsbanners und der Eisernen Front erschossen. Er starb im Glauben an Gott und Vaterland. “ (NSDAP)
Anschliessend, gegen 11. 30 Uhr, fragen sie sich im Landratsamt (=Kreisverwaltung) durch nach dem Kreisbauamtssekretär Josef Ka., dem Vorsitzenden der Troisdorfer SPD. Im Zimmer seines Vorgesetzten, des Kreisbaurates Heinrich B., finden sie ihn schliesslich. Wortlos schlagen sie sofort mit Gummiknüppeln auf Ka. ein und verlassen dann ebenso wortlos den Raum.
Quellen:
Heimatblätter des Siegkreises 1966; “Westdeutscher Beobachter“; „Siegburger Zeitung“; Kreisarchiv Siegburg; Hauptstaatsarchiv Düsseldorf.
Nach diesen Vorfällen werden Ke. und Müller zunächst festgenommen, gegen Ke. ergeht Haftbefehl, Müller wird bald wieder freigelassen.
Ka. wird in das Troisdorfer Krankenhaus eingeliefert. Aus dem Siegburger Krankenhaus wird er am frühen Morgen des 13. März, um 2.00 Uhr - nur Stunden nach der Gemeindewahl, für die er nicht mehr kandidiert hat - verhaftet und ins Siegburger Gefängnis gebracht. Entlassungsgesuche seiner Frau und seines Bruders werden vom Landrat abgelehnt.
Am 15. Juni 1933 und am 9. Juli 1933 stellt Ka. selbst Anträge; in dem letzten bedauert er seine SPD-Mitgliedschaft. Daraufhin verfügt Landrat Buttlar "nach Rücksprache mit dem Kreisleiter [...], der Gefängnisverwaltung, sowie dem Bürgermeisteramt in Troisdorf" die Entlassung Ka.s mit einer Auflage, die allerdings nicht überliefert ist. Später begibt sich Ka. für einige Zeit zu seinem Bruder, der in der Nähe von Nürnberg lebt.
Zwei Reaktionen auf die NS-Übergriffe sind überliefert; sie zeigen, dass in der Arbeiterschaft noch Widerstandswille vorhanden ist.
Am Nachmittag des 15. Februar 1933, gegen 15. 30 Uhr, ruft der Gewerkschaftssekretär Henseler im Landratsamt an und berichtet Regierungsassessor Thiel von Unruhe unter den Arbeitern von Troisdorf und Siegburg; besonders aufgebracht seien die Arbeiter der Mannstaedt-Werke und der RWS (später: DAG oder DN). Henseler bittet um Schutz für die vier prominenten Gewerkschafter bzw. Sozialdemokraten Ka. , Klein, Berghold und Fleischer - ansonsten gebe es am folgenden Tag Streiks. Thiel beruhigt ihn: Für Schutz sei gesorgt, ausserdem billige die SA diese Vorfälle nicht.
Kaum hat Thiel den Hörer aufgelegt, klingelt wieder der Apparat: Diesmal ist es der Mannstaedt-Direktor Leo Kuttenkeuler. Der Betriebsrat sei gerade bei ihm und habe ihm erklärt, wenn ihre Gewerkschaftskollegen weiter bedroht würden, gebe es Streik; darin seien sich die Mannstaedt-Arbeiter mit ihren Kollegen von der RWS einig.
Jetzt wird Thiel deutlich: Der Grund für die Übergriffe sei schliesslich die Erschiessung des SA(!)-Mannes am Volkshaus, "als deren mittelbare Täter die bedrohten Personen angesehen würden." Die möglichen Täter - nun meint Thiel die drei Nazis vom Vormittag - seien verhaftet, für Schutz sei gesorgt.
Die Gewerkschafter Klein und Fleischer haben sich aber auf diese Zusage nicht verlassen, sondern sind - in Begleitung eines Polizeibeamten - nach Köln zu Freunden gefahren.
Die Reaktion von Landrat Wessel lässt sich aus den Akten sehr genau ermitteln. Dort sind nämlich zwei Fassungen des Berichts erhalten, den der Landrat an seine vorgesetzte Dienststelle - den Regierungspräsidenten in Köln - gesandt hat.
Zunächst der Entwurf: Er stammt aus der Feder von Thiel, wie seine Paraphe ausweist, und ist mit handschriftlichen Änderungen des Landrats versehen;
dann der Durchschlag der Ausfertigung, die am 17. Februar an den Regierungspräsidenten abging.
Der Landrat hat im Entwurf den Satz gestrichen, in dem Thiel - ähnlich wie in dem Telefonat mit Kuttenkeuler - den Gewerkschaftern eine Mitschuld an den Angriffen vom Vormittag zuschiebt:
Ursache der Beunruhigung seien die Erschiessung des SA-Mannes und die damit in Zusammenhang zu bringende Bedrohung der Gewerkschaftsführer, von denen man annehme, dass sie in der fraglichen Nacht im Volkshaus vorübergehend anwesend gewesen seien und den Angriff eingeleitet hätten.
Das angeforderte Kommando Schutzpolizei für die Beerdigung von Franz Müller, das nach Thiels Vorstellung 40 Mann hoch sein sollte, schrumpft nach einer weiteren Korrektur in der Endfassung auf 20 Mann. Wessel ist offensichtlich bestrebt, den Scharfmacher Thiel zurückzuhalten und die Nervosität nicht noch weiter anzuheizen, im Gegenteil:
Ich habe sowohl den Betriebsrat [der Mannstaedt-Werke] wie die bei mir vorstellig gewordenen Arbeiterführer dringend gebeten, auf ihre Leute beruhigend einzuwirken und die Arbeiterschaft von Unbesonnenheiten und von unbegründetem Streik zurückzuhalten, was mir bindend zugesagt wurde.
Wessel versichert den Arbeitern ausserdem,
dass keinerlei Grund zur Beunruhigung der Bevölkerung und insbesonderheit der Arbeiterschaft bestehe und dass alle möglichen und notwendigen polizeilichen Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit und zur Abwendung von weiteren Bedrohung der Arbeiterführer getroffen seien und, falls notwendig, erweitert würden.
Diese Zusagen können wohl zu Recht als sehr weitgehend eingestuft werden; damit befindet sich Landrat und Zentrumsmitglied Wessel durchaus nicht auf der Linie der Nazis, wie die folgenden Wochen zeigen, in denen z. B. Ka. in Schutzhaft genommen wird.
Es verwundert daher auch nicht sonderlich, dass Wessel am 5. April auf seinen Antrag hin "aus Gesundheitsgründen" beurlaubt und am 15. April nach Erkelenz versetzt wird - einer der etwa 20 Landräte in Preussen, die ihren Posten verlieren bzw. abgeschoben werden; sein Nachfolger ist der Schriftsteller Ludwig von Buttlar. Ende April tritt Wessel aus dem Zentrum aus.
Noch im Laufe des Jahres 1933 wird die Troisdorfer Kirchstrasse in „Franz-Müller-Strasse“ umbenannt.
In dem ersten Prozess vor dem Bonner Landgericht im Sommer 1933 wurden 6 Männer wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu 8 bis 12 Jahren Zuchthaus verurteilt, die anderen mangels Beweises freigesprochen, aber in Schutzhaft behalten. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass von den Nazis kein einziger Schuss abgegeben worden sei.
Dank der hartnäckigen Bemühungen des beherzten Verteidigers Dr. Grüne wurde der Prozess 1935 noch einmal aufgerollt. Das war vor allem deswegen möglich geworden, weil zuvor waren 9 Nazis wegen Meineid – sie hatten den Besitz und den Gebrauch von Waffen abgestritten – verurteilt worden; inzwischen waren der damalige Bürgermeister Ley und der damalige Polizeikommissar von Braunschweig nach mehreren Strafverfahren zum Rücktritt gezwungen worden.
Nach dem zweiten Gerichtsurteil, das die allein angeklagten Volkshausverteidiger freisprach, waren diese in der Nacht von einer SS-Streife zuerst beschossen worden und hatten daraufhin das Feuer erwidert. Es ist in mehreren Prozessen nie geklärt worden, von welcher Seite die tödliche Kugel abgefeuert wurde. Die Mütze des Erschossenen hatte den Einschuss auf der Rückseite, so dass man spekulieren kann, ob jemand aus dem Volkshaus Franz Müller erschossen hat, als dieser sich zu den anderen SS-Leuten umdrehte – oder jemand aus den eigenen Reihen.