Nice, Alfred Meier, France
den 9. Oktober 1945
Liebe Irma, lieber Arnold!
Nach den finsteren Jahren der Abschliessung kn�pfen sich allm�hlich wieder wenigstens die postalischen Verbindungen an. So erfahre ich an einem Tag Deine Adresse von zwei Seiten, von Carl und Artur (Troisdorf). Inzwischen werdet Ihr von anderer Seite von meiner R�ckkehr aus dem Vorzimmer der H�lle erfahren haben. Heute verstehe ich noch nicht, dass ich zu den 2% geh�re, die auf so mirakul�se Art dem tausendfachen Untergang entgingen; ich kann wohl sagen, dass ich in dieser Hinsicht einen traurigen Rekord halte. Nachfolgend ganz kurz meine Erlebnisse. November 38 mache ich zuerst intimere Bekanntschaft mit der neuen Ordnung in Dachau, darauf Flucht nach Belgien, Verhaftung und Internierung am 10. Mai, dem Tag der deutschen Invasion, mit Abtransport an die spanische Grenze, wo ich in dem ber�chtigten, vorher der Unterbringung der spanischen Freiheitsk�mpfer -eigentlich m�sste ich auch Konzentrationslager sagen - St. Cyprien untergebracht war. Nach drei Monaten typhuskrank, werde ich in bedenklichem Zustande in ein Hospital in Perpignan - �brigens eine bessere Scheune - untergebracht, wo ich �ber 6 Monate blieb. W�hrend dieser Zeit war meine Frau - wir hatten in Br�ssel geheiratet - nachgekommen. Ich "d�brouillierte" mich in die Freiheit und lebte mit meiner Frau bis 1942 in Marseille bezw. Mittelfrankreich. Dort standen wir noch durch Vermittlung einer in Paris lebenden Verwandten meiner Frau in Verbindung mit unserem l. Peter und erfuhren, dass Euer guter Vater, Onkel Philipp, durch rechtzeitigen Heimgang von dem f�rchterlichen Erlebnis der Folgezeit bewahrt geblieben war. Ach, h�tte ich doch �ber meine lieben Eltern das gleiche erfahren; so aber liegt mir der Gedanke an die Leiden meiner Lieben in der Deportation wie ein schwerer Alpdruck auf der Seele. Doch ich will fortfahren.
Mitte 1942 zum franz. Arbeitsdienst herangezogen, wo ich �brigens nach einiger Zeit zum Privatsekret�r des Direktors avancierte, verfiel ich Aug. 42 erneut der magnetischen Anziehungskraft der deutschen K.Z. . Via Drancy (bei Paris) nach Oberschlesien deportiert, arbeitete ich 18 Monate in einem sog. Zwangsarbeitslager. Als Kinder haben wir mit Tr�nen in den Augen Onkel Toms H�tte gelesen Ach. welch paradiesischer Zustand im Vergleich zu unserem Dasein als "slave worker". Schwerste Arbeit (12 Stunden), ein Essen, das von Schweinen bestimmt zur�ckgewiesen worden w�re, bestialische Misshandlungen war, auf knappen Nenner gebracht, unser "Leben" in diesen 18 Monaten. Verlustquote in dieser Zeit: 60 % durch mehr oder weniger nat�rlichen Tod, Misshandlungen, Selection f�r die Gaskammern. Dass ich die Zeit �berdauerte, verdanke ich einmal meiner robusten Gesundheit, zum anderen aber der Tatsache, dass ich den gr�ssten Teil dieser Zeit Vorarbeiter war, da die anderen anscheinend noch weniger von dieser Arbeit verstanden als ich.
Alsdann �berf�hrung in ein Konzentrationslage (Auschwitz), alle bekannten Schikanen, dazu noch unglaublich heftige Bombardements durch die R. A. F. Wir arbeiteten in einer Fabrik zur synthetischen Herstellung von Benzin von gigantischem Ausmass, die fast jeden Monat mehrfach den Besuch von ca. 500 Bombern verzeichnete, wobei durchschnittlich 2000 Bomben auf das 5 qkm ausmachende Fabrikgel�nde abgeworfen wurden. Aber auch hier blieb mir das Gl�ck, wenigstens eine Zeitlang, treu, da ich nach einigen Monaten k�rperlicher Arbeit zum Lohnbuchhalter avancierte. Sp�ter wurde ich auch noch ital. Dolmetscher. Zwar konnte ich anfangs kein Wort italienisch, aber da ich im Umgang mit Spaniern spanisch ganz achtbar gelernt hatte, war ich schon nach wenigen Wochen in der Lage, in diesen einfachen Angelegenheiten zu dolmetschen. Das dauerte so bis zum Herannahen der Russen - Januar 45 -, das unsere Evakuation zur Folge hatte.
Diese Evakuation durch Fussmarsch stand unter dem Motto Himmlers "Kein H�ftling darf lebend in die H�nde des Feindes fallen". Dieser Marsch, der uns durch Schnee und Eis in d�nnen H�ftlingskleidern nach Buchenwald f�hrte, stellte das bisher Erlebte in den Schatten. T�gliche Marschleistung 30 km mit zerrissenem Schuhwerk und �berdeckt mit Frostwunden. Zwei Wochen lang bestand unsere Nahrung in K�rnern, verfrorenen R�ben und Schnee. Vom 21. Januar an habe ich nicht mehr gewusst, was ein Feuer ist. Der geforderte Blutzoll war daher f�rchterlich, etwa 50% blieben auf der Strecke, bevor wir Buchenwald erreichten, dessen Tore uns wie die Tore des Paradieses (sic) erschienen.
Dann setzte das Leben in Buchenwald ein, dessen Schilderung in Presse, Radio und Kino in nichts �bertrieben ist; im Gegenteil, ich bin der Ansicht, dass kein Bild, keine Feder der Welt �ber st�mperhafte Wiedergabe der Wahrheit hinauskommt. Hatten wir gehofft, zu den wenigen Gl�cklichen zu geh�ren, denen die Befreiung in Buchenwald winken w�rde, so sollten wir uns grausam get�uscht sehen. Nach dem Massensterben in B. wurde der Rest erneut durch Fussmarsch mit Richtung Dachau in "Sicherheit" gebracht. Roheste Behandlung, Begleitung und Bewachung durch sudetendeutsche u. ukrainische SS, denen die ber�chtigten Bluthunde von Buchenwald in ihrer traurigen Aufgabe halfen, sorgten daf�r, dass durchschnittlich t�glich 5% ersch�pft zur�ckblieben und durch Genickschuss liquidiert wurden. Heute noch trage ich sichtbare Spuren von Hundebissen.
17 Tage dauerte dieser Marsch. nur drei Tage bekamen wir eine Scheibe Brot (200 gr.), die �brige Zeit bestand die Nahrung in 4-6 Kartoffeln, die h�ufig sogar roh gegessen werden mussten; nebenbei assen wir die Bl�tter von Sauerampfer u. L�wenzahn. Unm�glich wiederzugeben. welche Methoden diese Unmenschen anwandten, um dem mit dem Genickschuss beauftragten Kommando die n�tige Arbeit zu geben. Und f�r diese Verbrecher pl�dieren heute d. Offizialverteidiger im L�neburger Prozess auf Milde, vielleicht auf Freispruch. Ich weiss, man will den Deutschen zeigen, was Demokratie, was gel�uterte Rechtsauffassung ist. Hierzu habe ich nur zu sagen: Nichts gelernt und nichts vergessen. Ich bin weit davon entfernt, nur den Hass und das Rachebegehren sprechen zu lassen, aber mich dauern die Leutchen, die da glauben, die Deutschen auf diese Weise erziehen zu k�nnen. Diese Armen im Geiste kennen vom deutschen Wesen ebensoviel bezw. ebensowenig wie etwa Franz Siebourg von Frankreich und den Franzosen wusste, �ber die er sein bekanntes Buch schrieb. Das en passant.
Am 23. April sp�rte ich, dass meine Kr�fte mich zu verlassen drohten, denn ausser den allgemeinen Beschwernissen litt ich noch pardessus le march� an mehreren st�ndig blutenden, handgrossen Phlegmonen. Um nicht dem Genickschuss zu verfallen, machte ich mit meiner letzten Kraftreserve einen Fluchtversuch. Ich reussierte und war gerettet. 2 Stunden sp�ter wurde die Kolonne von amerik. Voraustruppen erreicht, aber noch in der allerletzten Minute richteten die Verbrecher ihre Maschinengewehre auf die sp�rlichen Reste einer vorher starken Kolonne.
Nach vierw�chigem Aufenthalt in deutschen bezw. amerikanischen Hospit�lern erreichte ich, mehr Leiche als Mensch, Frankreich; mein Gewicht betrug 42 kg bei einem Normalgewicht von 68 kg. Zum Gl�ck fand ich meine I. Frau unversehrt vor. Sie hatte sich allerdings vor den Deutschen verbergen m�ssen, war zeitweise ebenfalls interniert gewesen, sonst aber der Deportation entkommen. Dagegen war unser gesamtes Hab und Gut Opfer des furor teutonicus und der collaboration francaise, so dass wir nicht nur sans le sous, mais aussi sans le dessous dastehen. Pour combler notre malchance j'ai du me faire op�rer (hernie �trangl�e) et ma femme a subi le meme tort �galement pour une hernie. Aber jetzt sind wir wieder beide zu Hause u. k�nnen darangehen, uns weiter zu erholen. Was h�ltst Du �brigens davon, lieber Arnold, wenn ich meine Mussezeit mit der Abfassung einer kleinen Schrift oder einer Artikelserie ausf�llen w�rde, die Du �bersetzen und irgendwo in England plazieren w�rdest. W�hrend ich mich an eine Abfassung in Franz�sisch schon heranwagen k�nnte, ist mein Englisch doch zu fadenscheinig. Es w�rde sich hierbei weniger um eine Tatsachenschilderung, als vielmehr die Kristallisierung allgemeiner Gedanken �ber meine Erlebnisse und �ber die Menschen, mit denen ich zusammenkam, meine Eindr�cke �ber die seelische Entwicklung bei den Deutschen, das Zusammenleben der Juden etc.
Vorl�ufig h�tte ich eine dringende Bitte an Euch. Mein Bruder Carl hat ein Paket mit W�sche und Kleidern an mich abgeschickt, aber dieses Paket ist leider als verloren anzusehen. Zwar hat Carl wahrscheinlich schon ein weiteres Paket abgesandt, aber leider gehen derartige Pakete fast vier Monate von Amerika, w�hrend Pakete von England nur etwa 10 Tage gebrauchen. K�nntet Ihr mir nun etwas W�sche. Unterw�sche, einen leichten Mantel und ein Paar Schuhe beschaffen und zuschicken. Ich habe wieder meine fr�here Figur, 41 im Kragen, Schuhgr�sse 42, m�gl. breit. F�r alles, was Ihr mir zuschicken k�nnt, w�re ich Euch sehr dankbar, da sich durch den Mangel von W�sche u. Kleidung schon rheumatische Schmerzen bemerkbar machen. Besonders einen Pullover mit langem �rmel und ein Paar Handschuhe ben�tige ich dringend. Ich glaube, dass ihr mich insoweit kennt, um zu wissen, dass nur wirklich dringende Not und die Besonderheit des Falls mich zu diesem Ansinnen bewegen. Wenn Ihr uns etwas schickt, dann bitte ich es zu versichern, da der durch die Not bedingte Tiefstand der Moral eine Ankunft von Paketen nicht immer gesichert erscheinen lassen. Trotz der bisherigen Fehlschl�ge werde ich nichts unversucht lassen, zu erfahren, was aus unseren lieben Verwandten geworden ist. �ber die Gestaltung unserer Zukunft haben wir noch keine ernsthaften Schritte unternehmen k�nnen.
In der Hoffnung, recht bald von Euch zu h�ren, verabschiede ich mich f�r heute mit
Gruss und Kuss
Euer Alfred
Meine liebe Frau l�sst unbekannterweise gr�ssen. Beim Durchlesen des Briefes stelle ich fest, dass ich einen Satz in Franz geschrieben habe; mitunter bin ich noch etwas zerstreut, aber einem Professor der franz Sprache gegen�ber ist das ja kein Verbrechen.
[1] Fundstelle: Stat; "Dies ist die Abschrift eines Briefes von Alfred Meier, geboren in Sieglar, an seinen Vetter und dessen Frau. Am 28.2.96 beschloss der Hauptausschuss der Stadt Troisdorf, in Bergheim eine Strasse nach ihm zu benennen. Eine Kopie des Originals befindet sich im Stadtarchiv. 29.2.96 Peter Haas"